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Kulturpädagogik – Berichte aus der Praxis
Hrsg.: Kulturpädagogischer Dienst Aachen
Verlag der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendkunstschulen
Unna 1989

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Inhalt:

Reiner Nachtwey
„ABER HALLO“ KULTURPÄDAGOGISCHER DIENST FÜR KINDER- UND JUGENDARBEIT

Irmgard Zepf
ZWISCHEN CONTAINER – SUPERMARKT – STRASSEN
Immaterielle Produktionsbedingungen eines kulturellen Feldes

Margret Drabiniok
KINDER-KULTUR-PÄDAGOGIK – Spielhaus am Weiher 1985 – 1988

Friedhelm Dvoratzek
DIE GEISTERBAHN – Fantasien zwischen Grusel und Horror

Stefanie  Weintz
DAS ROCKSTARSTUDIO

Friedhelm Dvoratzek
– FAHNEN IM PARK – Maiaktion und Raumgestaltung mit Kindern
– DIE KARTONSTADT
– Eine Spiel- und Malaktion für Kinder
– DER BÜCHERWURM

Michael Brehm
STADTFOTOGRAFIE

Spielhaus am Weiher / Werkstatt für Kunst- und Kultur mit Kindern / Stadt Alsdorf

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Zum Forschungshintergrund der „Werkstatt für Kunst und Kultur mit Kindern“
vgl. auch: https://nachtwey-aachen.de/5-x-kultur-1-x-management-forschung-buchbeitraege/

„ABER HALLO“ KULTURPÄDAGOGISCHER DIENST FÜR KINDER- ­UND JUGENDARBEIT 

Die Wurzeln 

Der „Kulturpädagogische Dienst für Kinder- und Jugendarbeit Aber Hallo“ hat seine Wurzeln in einem projektähnlichen Arbeitszusammenhang zur ästhetischen Erziehung in der offenen Ju­gendarbeit, der in den Jahren von 1981- 1985 am „Seminar für Bildende Kunst und ihre Didaktik“ der RWTH-Aachen bestanden hat. Im Rahmen dieses Arbeitszusammenhangs konnten sowohl die damaligen Studenten als auch die das Projekt leitenden Lehrenden Erfahrungen in einem für Kunsterzieher und Kunsterzieherstu­denten/innen fremden Arbeitsfeld sammeln. Die Motive zur Initiierung eines solchen Projekt­zusammenhangs waren vielfältig und gründeten nur zu einem Teil in Vorerfahrungen der Lehren­den in unterschiedlichen Feldern der Jugendkul­turarbeit. Entscheidend für Verlauf, Dauer und Intensität der damaligen Arbeit war die Perspek­tive, neue Berufsfelder und Arbeitsmöglichkeiten für Kunsterzieher außerhalb der Schule zu er­kunden. 

Mit Abschluss des Projektes und der Auflösung der pädagogischen Fakultät der RWTH-Aachen entstand unter den langjährigen Teilnehmern und Mitarbeitern das Bedürfnis, die Arbeit, in ge­wandelter und erweiterter Form, in „eigener Re­gie“ und als konkrete Berufsarbeit fortzuführen. 

Das als Voraussetzung dafür notwendige „Know-how“, ein gewandeltes Selbstverständnis als Kunstpädagoge, persönliche Risikobereitschaft und ein persönlich fundiertes und verankertes Interesse an ästhetischer Erziehung, hatte sich in der Phase des Hochschulprojektes entwickelt. Zudem konnte auf Kontakte aus der Projektzeit zurückgegriffen werden, die sich schon damals als relativ tragfähig für eine langfristig konzipier­te Arbeit in außerschulischen Feldern erwiesen hatten. 

Schwerpunktmäßig verlagerten sich zu­nächst die Orte der Arbeit sowie die Altersstruk­tur der Zielgruppe. An die Stelle von Jugend­lichen zwischen 14 und 18 Jahren, mit denen wir zuvor in Jugendhäusern zusammen gearbeitet hatten, traten nun primär Kinder ab 6 Jahre so­wie die Altersgruppe der sogenannten Kids und Teenies. Diese Umstrukturierung der Arbeit re­sultierte aus den zuvor genannten Gründen, aus der konzeptionellen Entscheidung einen ‚kultur­pädagogischen Dienstleistungsbetrieb‘ aufbau­en zu wollen, aber auch aus der allmählich ge­wachsenen Frustration über den häufig trostlo­sen Zustand der Arbeit in Häusern der offenen Tür und Jugendfreizeitheimen. Hinzu kam, daß die Kommunen, genauer die Jugend- und Kul­turämter, für den Bereich der Arbeit mit Kindern von 6 bis 14 Jahren eher und mehr Geld zur Ver­fügung stellen als für die Arbeit mit älteren Ju­gendlichen. 

Die Schwerpunkte der praktischen Arbeit heute lassen sich in vier Bereiche gliedern:
– konzeptionelle und organisatorische Leitung, Verwaltung und Betreuung des Kinderspiel­hauses der Stadt Alsdorf
– foto- und mediendidaktische Projekte mit un­terschiedlichen Kooperationspartnern
– 1- bis 4-wöchige kulturpädagogische Aktio­nen und Projekte im Aachener Stadt- und Kreisgebiet, u.a. in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern der Region,
– Wand- und Raumgestaltung in unterschied­lichen Feldern der Kinder- und Jugendkultur­arbeit (z.B. auf Spielplätzen und in Jugend­häusern).

Bausteine für eine Konzeption 

Die bisher entwickelten konzeptionellen Überle­gungen und didaktischen Bausteine der Arbeit des Kulturpä­dagogischen Dienstes entstanden einerseits in enger Bindung an die Praxis, sowie andererseits durch enge Kontakte zur universitären For­schung über Bedingungen und Möglichkeiten außerschulischer ästhetischer Erziehung. Sie resultieren aus Praxiserfahrungen, die aus kriti­scher Distanz heraus reflektiert wurden und die einem fortwährenden Veränderungs- und Wand­lungsprozeß unterliegen. 

Treibender Motor dieses Prozesses sind zum einen die sich ständig verändernden Bedingun­gen der kulturpädagogischen Praxis selber, aber auch die kulturelle Situation insgesamt, in der sich die Kulturpädagogik und die außerschuli­sche ästhetische Erziehung in den letzten Jah­ren entwickelt. Aufgrund fehlender, dauerhafter und stabiler Institutionen und Strukturen, die absichernd, schützend und stabilisierend wirken könnten, ist die Kulturpädagogik und die außer­schulische ästhetische Erziehung kulturellen Wandlungsprozessen direkt ausgesetzt. Dies zwingt dazu, die Konzeptionen flexibel und offen zu halten und dies betrifft sowohl die konkret in­haltliche als auch die strukturelle Seite der Ar­beit. 

Ästhetisch-kulturelle Erziehung im außerschuli­schen Bereich entwickelt sich heute in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von einer großen kulturellen Dynamik gekennzeichnet ist. Diese Dynamik, deren Triebfedern sehr unterschied­licher Art sind, führt dazu, daß sich die kulturel­len Felder immer weiter ausdifferenzieren und ehemals gesicherte kulturelle Bestände, die qua Pädagogik zu überliefern waren und innerhalb derer sich die Sozialisation von Kindern, Ju­gendlieben und Pädagogen vollzog, einer stän­digen und immer schneller fortschreitenden Wandlung unterliegen. 

Die Geschwindigkeit und die Dynamik dieser Prozesse haben unter psychosozialen Aspekten einen durchaus als ambivalent einzuschätzen­den Prozess kultureller Freisetzungen in Bewe­gung gebracht, dessen Folgen heute noch kaum abzuschätzen sind. Außer Frage steht je­doch, daß wir uns mitten in der Entwicklung hin zu einer multikulturellen Gesellschaft befinden. Deren Teilsysteme stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander, überschneiden sich oder grenzen sich hart voneinander ab, bil­den Überlagerungen, Verdeckungen, Durchmi­schungen, und sie verändern gerade für Kinder und Jugendliebe die Material- und Zeitstruktur für die Ausbildung kultureller Identitäten. 

Neben vielen anderen Faktoren haben an die­sem Prozes der kulturellen Ausdifferenzierung insbesondere die hochtechnisierten Kommuni­kations- und Transportsysteme unterschiedlich­ster Art einen großen Anteil. Die Digitalisierung von Tönen und Bildern entzieht weiten Berei­chen menschlicher Kommunikation ihre mate­rielle Basis, kleidet sie ein in binäre Rechenope­rationen und macht sie so flexibel und allseitig verfügbar. So erhalten wir mühelos Kenntnis von den unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Systemen dieser Welt, erweitern die Bilder von dieser Welt ins Unermeßliche und speichern sie in unseren Köpfen und deren rechnergestützten apparativen Prothesen. Die Vermehrung von Bil­dern und anderen Botschaften durch deren Digi­talisierung und technische Verdoppelung dro­hen, die mühsam errungenen Ausdrucksmög­lichkeiten vieler Menschen wegzuschwemmen. Das Vermögen zu differenzierten, existentiell wichtigen symbolischen Darstellungen ist immer wieder bedroht und es scheint sich eine Schere aufzutun zwischen den kommerziellen Möglich­keiten der ästhetisch-symbolischen Beeindruckung und der subjektiven Lust auf sie einerseits und den Möglichkeiten einer nicht kommerziell gefassten Ausdrucksfähigkeit andererseits.

In einer solchen kulturellen Situation wachsen Kinder und Jugendliche heute auf und müssen in ihr Formen von Identität, ihre Selbst- und Weltbilder entwerfen. Dabei sind sie jedoch nicht die von vornherein Unterlegenen. Vielmehr ent­wickeln sie in dieser Situation Formen der kultu­rellen Selbstartikulation, die einen spezifischen Reflex auf die geschilderte Situation darstellen und die zwischen Anpassung und Widerstand, Adaption und Transformation, spielerischer Re­kontextualisierung von Zeichen und Symbolen und gewaltsamer Zerstörung, zwischen kulturel­ler Selbstentfaltung und unterschiedlichen For­men der Autoaggression changieren. Die Struk­tur dieser kulturellen Praktiken ist mit dem von Levi-Strauß entlehnten Begriff der Bricolage zu beschreiben. Ähnlich dem Bastler bei Levi­Strauß entnehmen die Kinder und Jugendlichen dem unermeßlichen Angebot der Waren- und Medienwelt die kulturellen Versatzstücke und Partikel, die ihnen zum Aufbau der eigenen kul­turellen Identitäten nützlich erscheinen. Daraus entwickeln sie als Individuen und als Gruppen, in Cliquen und Szenen, auf Straßen und in Disko­theken, in Schulen und in kulturpädagogischen Projekten, vor den Terminals ihrer Computer und in den traditionellen Tätigkeitsfeldern von Vereinen und Verbänden ihre kulturellen For­men.

Eine Vielzahl von jugendlichen Kulturen und Le­bensstilen hat sich in den letzten 10 bis 20 Jah­ren gebildet, Lebensformen, die sich heute schon zum Teil aus der Kindheit heraus entwic­keln und ausdehnen bis in das Erwachsenenal­ter. Als kulturelle Teilsysteme stehen diese Kulturen in komplizierten Wechselverhältnissen zueinander, ja zum Teil stehen sie sich als frem­de, gar feindlich gesonnene kulturelle Formatio­nen gegenüber. Das Verhältnis von bekannter und unbekannter Kultur, von fremder und eige­ner Kultur wird vor diesem Hintergrund zusehends komplizierter, und die kulturellen Kon­flikte, die früher vorwiegend intergesellschaftli­cher Art waren bzw. zwischen verschiedenen ethnischen Gruppierungen bestanden, werden zu intragesellschaftlichen Problemen. 

Eine solche Situation hat für eine Disziplin, die sich Kulturpädagogik nennt, Folgen in mehrfa­cher Hinsicht. Das Aufeinandertreffen von frem­der und eigener Kultur – und dies betrifft sowohl Kinder und Jugendliche als auch Pädagogen – wird selber zu einem entscheidenden Span­nungsfeld, in dem sich kulturelles Lernen voll­zieht, auch in seiner spezialisierten Form als eigens initiierte Kulturpädagogik. 

Dem Pädagogen fallen dabei gleich mehrere Rollen zu: er ist Animateur und Berater, Kunst­- und Kulturpädagoge, Sozialarbeiter und Ethno­loge, und er ist nicht zuletzt eine erwachsene Person mit einem spezifischen kulturellen Habi­tus, durch den er seine individuelle Kultur, aber auch umfassender, die Kultur der Erwachsenen im pädagogischen Feld repräsentiert. Eine Kul­tur also, deren Träger nicht mehr durch Funktion und Alter legitimiert sind, sondern die diese Le­gitimation erst in der kulturellen Auseinander­setzung mit Kindern und Jugendlieben gewin­nen müssen. 

 

Eine derart differenzierte und durch sich zum Teil widersprechende Ansprüche geprägte pä­dagogische Arbeit ist allerdings kaum noch in einem klassischen, an linearem Lernen und Leh­ren orientierten Sinne zu leisten. Vielmehr wird die kulturpädagogische Arbeit in weiten Teilen eine ähnliche Struktur müssen aufweisen wie die kulturelle Tätigkeit der Kinder und Jugendlichen selber: sie wird eine Art Bricolage sein, in der sich unterschiedliche Arbeitsformen vermischen und überlagern, in der Formen der Adhoc-Arbeit ebenso enthalten sind wie Formen geplanter und kontinuierlicher Arbeit. Sie wird sich sowohl Formen klassischer Kurs- und Gruppenarbeit bedienen müssen als auch Formen der Groß­gruppenanimation, der Projektarbeit usw„ In ihr wird das Lernen auf Umwegen, mit Brüchen und Abbrüchen ebenso repräsentiert sein wie das an der schulischen Arbeit orientierte lineare Lernen. Sie wird langsame, verzögerte Lernformen eben­so für sich proklamieren müssen, wie sie Schnelligkeit und Geschwindigkeit kultureller Prozesse in solchen Formen und deren Inhalten repräsentieren muß. Allerdings nicht aufgeteilt und separiert in unterschiedlichen und vonein­ander unabhängig arbeitenden Institutionen, sondern als integrierte Teile komplexer ästhe­tisch-kultureller Lernprozesse und eingebettet in Strukturen aufeinander bezogener Orte außer­schulischer ästhetischer Erziehung. So gesehen hat dies zur Folge, daß Kulturpädagogik sowohl eine Arbeit an neuen didaktischen und methodi­schen Formen beinhaltet, als auch eine Arbeit an neu aufzubauenden Strukturen und Institutio­nen der Kulturpädagogik nach sich zieht. Das dies zum Teil noch „Zukunftsmusik“ ist, kann und soll nicht verschwiegen werden. In dem Ma­ße jedoch, wie sich die kulturelle Situation selber wandelt und ausdifferenziert, steigt auch die Notwendigkeit, neue Formen kulturpädagogi­scher Institutionen, neuartige Vernetzungsstruk­turen und Vermittlungsformen zu entwickeln.

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, daß situations- und ortsunabhängige, kulturell allge­meingültige, didaktische Begründungszusammenhänge für die jeweils konkret zu entwickelnde Praxis weitgehend unzulänglich sein wer­den. Dies kann eine Chance für die praktische Arbeit selber sein, da sie so ihre Konzepte in den konkreten kulturellen Feldern entwickeln muß. Dort muß sie ihre Methode ausbilden, erproben, revidieren und neu überprüfen, und je eigen­ständiger die einzelnen Träger der außerschuli­schen ästhetischen Erziehung und Kulturpäda­gogik dies tun können, um so besser ist der Pro­zess der fortwährenden Revision der pädagogi­schen Mittel und Methoden zu bewerkstelligen. Solche Überlegungen suspendieren die jeweili­gen Kulturpädagogen nicht von der theoreti­schen, methodischen-didaktischen Reflexion ih­res Handelns. Im Gegenteil, diese wird um so dringlicher, da sich die Pädagogen nicht mehr auf die praktische Relevanz didaktischer Global­konzepte verlassen können. Dies alles werden sie aber auch kaum alleine bewerkstelligen kön­nen, und sie werden auf Bündnispartner in der Jugendarbeit und in den kommunalen Verwal­tungen, in der Weiterbildung und an den Hoch­schulen angewiesen sein.

Das bisher Gesagte hat Konsequenzen für die konkrete Praxis des Kulturpädagogischen Dien­stes. Wir gehen davon aus, daß das, was Kultur genau ist, sich jeweils nur in konkreten Situatio­nen, Arbeitszusammenhängen und im Umgang mit ganz konkreten Individuen (mit ihren je eige­nen kulturellen Ausdrucks- und Umgangsfor­men) „fassen“ läßt. Die Orientierung an der All­tagskultur und Lebenswelt der Kinder und Ju­gendlichen ist dabei ein zentraler Bezugspunkt, der mit den Bereichen der unterschiedlichen Künste in eine spannungsvolle Beziehung ge­setzt wird, um auf diesem Weg den Kindern und Jugendlichen vielfältige, bekannte und unbe­kannte, kulturelle und künstlerische Ausdrucks- ­und Bearbeitungsformen zu ermöglichen. Die in jedem Arbeitszusammenhang neu und konkret zu bestimmenden kulturellen Momente sollen die jeweiligen Projekte und deren Inhalte struk­turieren. An diesem Punkt wird auch deutlich, was der Pädagoge in seiner Teilfunktion als Ethnologe zu leisten hat, denn wie dieser hat er in einem ihm fremden Terrain, an einer Situation, an einem Ort, an einem Ding, an einem Men­schen und ihren Kommunikationsformen usw. das herauszuarbeiten, was kulturell, ästhetisch, künstlerisch und kreativ ist. 

Die Orientierung an der Alltagskultur der Kinder und Jugendlichen ist der eine zentrale Bezugs­punkt, aus dem heraus allerdings nur unter Hin­zufügung weiterer Bezugsgrößen eine sinnvolle Kulturpädagogik zu leisten ist, sofern sie nicht affirmativ das zu stabilisieren trachtet, was an Alltagskultur vorhanden ist. Der Alltag ist kein in­tegerer, unverfälschter Raum der Artikulation „wahrer“ Bedürfnisse und ihrer kulturellen For­men. Er ist auch weithin kolonialisiertes Gebiet, durchsetzt mit Surrogaten und Kunstfiguren nur noch imaginärer Phantasiewelten. In ihm ist viel­fach simuliert, was real erscheint, und es enthält häufig nur noch Präsenz durch seine mediale Multiplikation. 

Ziel der Arbeit des Kulturpädagogischen Dien­stes ist es, Kindern und Jugendlichen Räume im konkreten und übertragenden Sinne zu eröffnen, in denen sie einerseits ihr alltägliches Aus­drucks- und Darstellungsvermögen entfalten und zumindest zeitweilig unbehelligt von der aufdringlichen Freizeit- und Konsumwelt ausdifferenzieren können, und in denen sie zum ande­ren mit neuen Möglichkeiten realer und symboli­scher Artikulation und Expression konfrontiert werden. Unterschiedliche Medien, eine differen­zierte und flexible Zeitstruktur, vielfältige Mate­rialien, künstlerische Arbeitsweisen, Formen und Inhalte sind die, die kulturpädagogische Arbeit komplementär ergänzenden und erweiternden Bezugsgrößen. Formen und Darstellungsweisen der Alltagskultur treffen in den zuvor genannten Räumen auf künstlerische Methoden und Dar­stellungsweisen und aus der spannungsvollen Kommunikation beider Bereiche können und sollten neue Perspektiven der Selbstartikulation entwickelt werden. 

Bei der konkreten Arbeit von „Aber Hallo“ steht der Dienstleistungsaspekt im Vordergrund, d.h. Projekte werden entwickelt und unterschied­lichen Interessenten, zumeist kommunalen Insti­tutionen, angeboten. Mit zunehmendem Be­kanntheitsgrad der Arbeit von „Aber Hallo“ wur­de und wird der Verein mehr und mehr von die­sen Institutionen selber angesprochen, mit dem Ziel, für bestimmte zusammenhänge Projekte, Aktionen und Arbeitskonzepte zu entwickeln. Darüber hinaus beinhaltet der Dienstleistungsas­pekt auch beratende Tätigkeiten von Trägem der offenen Kinder und Jugendarbeit. 

Den unterschiedlichen Räumen und Orten zum einen und den jeweiligen Adressatengruppen zum anderen entsprechend werden in Zusam­menarbeit und Absprache mit den Koopera­tionspartnern und/oder Auftraggebern die Pro­jekte, den spezifischen Bedingungen Rechnung tragend, konzipiert. Orte der konkreten kultur­pädagogischen Projekte sind nicht primär eigene Räume, eigene Ateliers oder ein eigenes Haus, sondern sozusagen „fremde Nester“, wie  z.B. Straßen, Parks und Spielplätze, Jugend- ­und Kinderhäuser etc., wo für einen Zeitraum von 1 bis 4 Wochen mit Kindern und Jugendli­chen zusammen zu einem bestimmten Themen­bereich gearbeitet wird. Eine Ausnahme in die­ser Hinsicht stellt die jeweils 5 Monate pro Jahr dauernde Leitung und Betreuung eines Kinder­spielhauses dar.

Diese Formen kulturpädagogischer Arbeit erfor­dern eine hohe Flexibilität in Bezug auf Zeit, Raum und Ort der jeweiligen Arbeit sowie in Be­zug auf ihre Organisationsstrukturen, finanziel­len Absicherungen und institutionellen Vernet­zungen. Das Moment der Dienstleistung und der dezentralen Arbeitsstruktur bedingt ein weiteres: Die Adressaten der Projekte und Veranstaltun­gen sind meist Kinder und Jugendliche, die kei­nen oder nur einen sehr geringen Zugang zu den traditionellen kulturvermittelnden Institutio­nen, zu Maischulen, Künstlerwerkstätten, Mu­seen und ihren vielfältigen pädagogischen An­geboten haben. Die dort meist vorherrschende Kurs- und Gruppenorientierung mit ihren lang­fristigen, aufeinander aufbauenden und schein­bar kontinuierlichen Angeboten sind in dem „kulturellen Kapital“ dieser Kinder und Jugend­lichen zunächst einmal nicht repräsentiert. Ein Tatbestand, der keineswegs zu glorifizieren ist, den es jedoch zur Kenntnis zu nehmen gilt, so­fern man als Pädagoge mit diesem sehr hohen 

Anteil an Kindern und Jugendlichen arbeitet und arbeiten will. Verstärkend kommt hinzu, daß der schulische Kunstunterricht, so stellt es sich häufig aus der Sicht der außerschulischen äs­thetischen Erziehung dar, eher abschreckende als animierende Funktion in Bezug auf kreativ­gestalterische Arbeit für diese Kinder und Ju­gendlichen hat. 

Als eine, den bisher skizzierten Überlegungen halbwegs adäquate Vermittlungsform erwiesen sich Projekte von unterschiedlicher Dauer und Form. Der Projektbegriff wird von uns allerdings nicht eng in einem historisch gewachsenen wis­senschaftlichen und methodisch-didaktischen Sinn verwendet, sondern eher in seiner alltags­sprachlichen Bedeutung genutzt. Er kennzeich­net meist zeitlich relativ überschaubare Arbeits­vorhaben, deren Verlauf von den Teilnehmern mitbestimmt wird. In den Projekten wird beson­derer Wert sowohl auf die sozialen und künstle­risch -kreativen Prozesse gelegt, als auch auf die Gestaltung der Produkte der jeweiligen Ar­beitsprozesse. Obwohl die Projekte zumeist multimedial angelegt sind, ist dennoch häufig ein Medium dominant. Entscheidend ist, daß die jeweiligen Arbeitsvorhaben unter einem be­stimmten Leitthema stehen und insbesondere die Raum-,Zeit- und Materialorganisation auf dieses Thema hin abgestimmt sind. Hinzu kommt, daß diese Projekte zumeist so offen konzipiert sind, daß die Kinder und Jugendli­chen ihrerseits zu fast allen Arbeitsphasen ein­ oder aussteigen können, andererseits aber auch eine kontinuierliche Mitarbeit gewährleistet und möglich ist. Der offene Zugang zu den Projekten ist keine neue Form des „laissez-faire“, sondern erfordert konkrete Entscheidungen von den Kin­dern, Jugendlichen und Pädagogen, die sie im Verlauf der Projekte immer wieder von neuem untereinander aushandeln müssen. Dadurch wird ein Prozess ausgelöst und in Gang gehalten, der selber in hohem Maß von kultureller Bedeu­tung ist und eine so verstandene Kulturpädago­gik entwickelt hierdurch auch eine politische Po­tenz. 

Die in diesem Buch dokumentierten Projekte und Arbeitszusammenhänge mögen einen Ein­blick in die praktische und konzeptionelle Arbeit des „Kulturpädagogischen Dienstes“ geben und das zuvor geschriebene partiell verdeutlichen. Unsere Absicht bei der Zusammenstellung der Broschüre war es jedoch nicht, einer vorgege­benen Theorie durch nachgelieferte Praxisbei­spiele genüge zu tun oder eine bruchlose Ein­heit der beiden Bereiche vorzutäuschen. Viel­mehr soll die Reflexion der Praxis dazu dienen, begründete Fragen an die Theorie stellen zu können um deren Tauglichkeit zu prüfen. Ein Prozess, von dem wir denken, daß er auch öffent­lich zu machen ist, um so die Kulturpädagogik in ihrem theoretischen und praktischen Selbstver­ständnis voran zu bringen. 

Reiner Nachtwey 1989