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Kulturpädagogik – Berichte aus der Praxis
Hrsg.: Kulturpädagogischer Dienst Aachen
Verlag der Landesarbeitsgemeinschaft Jugendkunstschulen
Unna 1989
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Inhalt:
Reiner Nachtwey
„ABER HALLO“ KULTURPÄDAGOGISCHER DIENST FÜR KINDER- UND JUGENDARBEIT
Irmgard Zepf
ZWISCHEN CONTAINER – SUPERMARKT – STRASSEN
Immaterielle Produktionsbedingungen eines kulturellen Feldes
Margret Drabiniok
KINDER-KULTUR-PÄDAGOGIK – Spielhaus am Weiher 1985 – 1988
Friedhelm Dvoratzek
DIE GEISTERBAHN – Fantasien zwischen Grusel und Horror
Stefanie Weintz
DAS ROCKSTARSTUDIO
Friedhelm Dvoratzek
– FAHNEN IM PARK – Maiaktion und Raumgestaltung mit Kindern
– DIE KARTONSTADT
– Eine Spiel- und Malaktion für Kinder
– DER BÜCHERWURM
Michael Brehm
STADTFOTOGRAFIE
Spielhaus am Weiher / Werkstatt für Kunst- und Kultur mit Kindern / Stadt Alsdorf
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Zum Forschungshintergrund der „Werkstatt für Kunst und Kultur mit Kindern“
vgl. auch: https://nachtwey-aachen.de/5-x-kultur-1-x-management-forschung-buchbeitraege/
„ABER HALLO“ KULTURPÄDAGOGISCHER DIENST FÜR KINDER- UND JUGENDARBEIT
Die Wurzeln
Der „Kulturpädagogische Dienst für Kinder- und Jugendarbeit Aber Hallo“ hat seine Wurzeln in einem projektähnlichen Arbeitszusammenhang zur ästhetischen Erziehung in der offenen Jugendarbeit, der in den Jahren von 1981- 1985 am „Seminar für Bildende Kunst und ihre Didaktik“ der RWTH-Aachen bestanden hat. Im Rahmen dieses Arbeitszusammenhangs konnten sowohl die damaligen Studenten als auch die das Projekt leitenden Lehrenden Erfahrungen in einem für Kunsterzieher und Kunsterzieherstudenten/innen fremden Arbeitsfeld sammeln. Die Motive zur Initiierung eines solchen Projektzusammenhangs waren vielfältig und gründeten nur zu einem Teil in Vorerfahrungen der Lehrenden in unterschiedlichen Feldern der Jugendkulturarbeit. Entscheidend für Verlauf, Dauer und Intensität der damaligen Arbeit war die Perspektive, neue Berufsfelder und Arbeitsmöglichkeiten für Kunsterzieher außerhalb der Schule zu erkunden.
Mit Abschluss des Projektes und der Auflösung der pädagogischen Fakultät der RWTH-Aachen entstand unter den langjährigen Teilnehmern und Mitarbeitern das Bedürfnis, die Arbeit, in gewandelter und erweiterter Form, in „eigener Regie“ und als konkrete Berufsarbeit fortzuführen.
Das als Voraussetzung dafür notwendige „Know-how“, ein gewandeltes Selbstverständnis als Kunstpädagoge, persönliche Risikobereitschaft und ein persönlich fundiertes und verankertes Interesse an ästhetischer Erziehung, hatte sich in der Phase des Hochschulprojektes entwickelt. Zudem konnte auf Kontakte aus der Projektzeit zurückgegriffen werden, die sich schon damals als relativ tragfähig für eine langfristig konzipierte Arbeit in außerschulischen Feldern erwiesen hatten.
Schwerpunktmäßig verlagerten sich zunächst die Orte der Arbeit sowie die Altersstruktur der Zielgruppe. An die Stelle von Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren, mit denen wir zuvor in Jugendhäusern zusammen gearbeitet hatten, traten nun primär Kinder ab 6 Jahre sowie die Altersgruppe der sogenannten Kids und Teenies. Diese Umstrukturierung der Arbeit resultierte aus den zuvor genannten Gründen, aus der konzeptionellen Entscheidung einen ‚kulturpädagogischen Dienstleistungsbetrieb‘ aufbauen zu wollen, aber auch aus der allmählich gewachsenen Frustration über den häufig trostlosen Zustand der Arbeit in Häusern der offenen Tür und Jugendfreizeitheimen. Hinzu kam, daß die Kommunen, genauer die Jugend- und Kulturämter, für den Bereich der Arbeit mit Kindern von 6 bis 14 Jahren eher und mehr Geld zur Verfügung stellen als für die Arbeit mit älteren Jugendlichen.
Die Schwerpunkte der praktischen Arbeit heute lassen sich in vier Bereiche gliedern:
– konzeptionelle und organisatorische Leitung, Verwaltung und Betreuung des Kinderspielhauses der Stadt Alsdorf
– foto- und mediendidaktische Projekte mit unterschiedlichen Kooperationspartnern
– 1- bis 4-wöchige kulturpädagogische Aktionen und Projekte im Aachener Stadt- und Kreisgebiet, u.a. in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern der Region,
– Wand- und Raumgestaltung in unterschiedlichen Feldern der Kinder- und Jugendkulturarbeit (z.B. auf Spielplätzen und in Jugendhäusern).
Bausteine für eine Konzeption
Die bisher entwickelten konzeptionellen Überlegungen und didaktischen Bausteine der Arbeit des Kulturpädagogischen Dienstes entstanden einerseits in enger Bindung an die Praxis, sowie andererseits durch enge Kontakte zur universitären Forschung über Bedingungen und Möglichkeiten außerschulischer ästhetischer Erziehung. Sie resultieren aus Praxiserfahrungen, die aus kritischer Distanz heraus reflektiert wurden und die einem fortwährenden Veränderungs- und Wandlungsprozeß unterliegen.
Treibender Motor dieses Prozesses sind zum einen die sich ständig verändernden Bedingungen der kulturpädagogischen Praxis selber, aber auch die kulturelle Situation insgesamt, in der sich die Kulturpädagogik und die außerschulische ästhetische Erziehung in den letzten Jahren entwickelt. Aufgrund fehlender, dauerhafter und stabiler Institutionen und Strukturen, die absichernd, schützend und stabilisierend wirken könnten, ist die Kulturpädagogik und die außerschulische ästhetische Erziehung kulturellen Wandlungsprozessen direkt ausgesetzt. Dies zwingt dazu, die Konzeptionen flexibel und offen zu halten und dies betrifft sowohl die konkret inhaltliche als auch die strukturelle Seite der Arbeit.
Ästhetisch-kulturelle Erziehung im außerschulischen Bereich entwickelt sich heute in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von einer großen kulturellen Dynamik gekennzeichnet ist. Diese Dynamik, deren Triebfedern sehr unterschiedlicher Art sind, führt dazu, daß sich die kulturellen Felder immer weiter ausdifferenzieren und ehemals gesicherte kulturelle Bestände, die qua Pädagogik zu überliefern waren und innerhalb derer sich die Sozialisation von Kindern, Jugendlieben und Pädagogen vollzog, einer ständigen und immer schneller fortschreitenden Wandlung unterliegen.
Die Geschwindigkeit und die Dynamik dieser Prozesse haben unter psychosozialen Aspekten einen durchaus als ambivalent einzuschätzenden Prozess kultureller Freisetzungen in Bewegung gebracht, dessen Folgen heute noch kaum abzuschätzen sind. Außer Frage steht jedoch, daß wir uns mitten in der Entwicklung hin zu einer multikulturellen Gesellschaft befinden. Deren Teilsysteme stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander, überschneiden sich oder grenzen sich hart voneinander ab, bilden Überlagerungen, Verdeckungen, Durchmischungen, und sie verändern gerade für Kinder und Jugendliebe die Material- und Zeitstruktur für die Ausbildung kultureller Identitäten.
Neben vielen anderen Faktoren haben an diesem Prozes der kulturellen Ausdifferenzierung insbesondere die hochtechnisierten Kommunikations- und Transportsysteme unterschiedlichster Art einen großen Anteil. Die Digitalisierung von Tönen und Bildern entzieht weiten Bereichen menschlicher Kommunikation ihre materielle Basis, kleidet sie ein in binäre Rechenoperationen und macht sie so flexibel und allseitig verfügbar. So erhalten wir mühelos Kenntnis von den unterschiedlichsten kulturellen und sozialen Systemen dieser Welt, erweitern die Bilder von dieser Welt ins Unermeßliche und speichern sie in unseren Köpfen und deren rechnergestützten apparativen Prothesen. Die Vermehrung von Bildern und anderen Botschaften durch deren Digitalisierung und technische Verdoppelung drohen, die mühsam errungenen Ausdrucksmöglichkeiten vieler Menschen wegzuschwemmen. Das Vermögen zu differenzierten, existentiell wichtigen symbolischen Darstellungen ist immer wieder bedroht und es scheint sich eine Schere aufzutun zwischen den kommerziellen Möglichkeiten der ästhetisch-symbolischen Beeindruckung und der subjektiven Lust auf sie einerseits und den Möglichkeiten einer nicht kommerziell gefassten Ausdrucksfähigkeit andererseits.
In einer solchen kulturellen Situation wachsen Kinder und Jugendliche heute auf und müssen in ihr Formen von Identität, ihre Selbst- und Weltbilder entwerfen. Dabei sind sie jedoch nicht die von vornherein Unterlegenen. Vielmehr entwickeln sie in dieser Situation Formen der kulturellen Selbstartikulation, die einen spezifischen Reflex auf die geschilderte Situation darstellen und die zwischen Anpassung und Widerstand, Adaption und Transformation, spielerischer Rekontextualisierung von Zeichen und Symbolen und gewaltsamer Zerstörung, zwischen kultureller Selbstentfaltung und unterschiedlichen Formen der Autoaggression changieren. Die Struktur dieser kulturellen Praktiken ist mit dem von Levi-Strauß entlehnten Begriff der Bricolage zu beschreiben. Ähnlich dem Bastler bei LeviStrauß entnehmen die Kinder und Jugendlichen dem unermeßlichen Angebot der Waren- und Medienwelt die kulturellen Versatzstücke und Partikel, die ihnen zum Aufbau der eigenen kulturellen Identitäten nützlich erscheinen. Daraus entwickeln sie als Individuen und als Gruppen, in Cliquen und Szenen, auf Straßen und in Diskotheken, in Schulen und in kulturpädagogischen Projekten, vor den Terminals ihrer Computer und in den traditionellen Tätigkeitsfeldern von Vereinen und Verbänden ihre kulturellen Formen.
Eine Vielzahl von jugendlichen Kulturen und Lebensstilen hat sich in den letzten 10 bis 20 Jahren gebildet, Lebensformen, die sich heute schon zum Teil aus der Kindheit heraus entwickeln und ausdehnen bis in das Erwachsenenalter. Als kulturelle Teilsysteme stehen diese Kulturen in komplizierten Wechselverhältnissen zueinander, ja zum Teil stehen sie sich als fremde, gar feindlich gesonnene kulturelle Formationen gegenüber. Das Verhältnis von bekannter und unbekannter Kultur, von fremder und eigener Kultur wird vor diesem Hintergrund zusehends komplizierter, und die kulturellen Konflikte, die früher vorwiegend intergesellschaftlicher Art waren bzw. zwischen verschiedenen ethnischen Gruppierungen bestanden, werden zu intragesellschaftlichen Problemen.
Eine solche Situation hat für eine Disziplin, die sich Kulturpädagogik nennt, Folgen in mehrfacher Hinsicht. Das Aufeinandertreffen von fremder und eigener Kultur – und dies betrifft sowohl Kinder und Jugendliche als auch Pädagogen – wird selber zu einem entscheidenden Spannungsfeld, in dem sich kulturelles Lernen vollzieht, auch in seiner spezialisierten Form als eigens initiierte Kulturpädagogik.
Dem Pädagogen fallen dabei gleich mehrere Rollen zu: er ist Animateur und Berater, Kunst- und Kulturpädagoge, Sozialarbeiter und Ethnologe, und er ist nicht zuletzt eine erwachsene Person mit einem spezifischen kulturellen Habitus, durch den er seine individuelle Kultur, aber auch umfassender, die Kultur der Erwachsenen im pädagogischen Feld repräsentiert. Eine Kultur also, deren Träger nicht mehr durch Funktion und Alter legitimiert sind, sondern die diese Legitimation erst in der kulturellen Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlieben gewinnen müssen.
Eine derart differenzierte und durch sich zum Teil widersprechende Ansprüche geprägte pädagogische Arbeit ist allerdings kaum noch in einem klassischen, an linearem Lernen und Lehren orientierten Sinne zu leisten. Vielmehr wird die kulturpädagogische Arbeit in weiten Teilen eine ähnliche Struktur müssen aufweisen wie die kulturelle Tätigkeit der Kinder und Jugendlichen selber: sie wird eine Art Bricolage sein, in der sich unterschiedliche Arbeitsformen vermischen und überlagern, in der Formen der Adhoc-Arbeit ebenso enthalten sind wie Formen geplanter und kontinuierlicher Arbeit. Sie wird sich sowohl Formen klassischer Kurs- und Gruppenarbeit bedienen müssen als auch Formen der Großgruppenanimation, der Projektarbeit usw„ In ihr wird das Lernen auf Umwegen, mit Brüchen und Abbrüchen ebenso repräsentiert sein wie das an der schulischen Arbeit orientierte lineare Lernen. Sie wird langsame, verzögerte Lernformen ebenso für sich proklamieren müssen, wie sie Schnelligkeit und Geschwindigkeit kultureller Prozesse in solchen Formen und deren Inhalten repräsentieren muß. Allerdings nicht aufgeteilt und separiert in unterschiedlichen und voneinander unabhängig arbeitenden Institutionen, sondern als integrierte Teile komplexer ästhetisch-kultureller Lernprozesse und eingebettet in Strukturen aufeinander bezogener Orte außerschulischer ästhetischer Erziehung. So gesehen hat dies zur Folge, daß Kulturpädagogik sowohl eine Arbeit an neuen didaktischen und methodischen Formen beinhaltet, als auch eine Arbeit an neu aufzubauenden Strukturen und Institutionen der Kulturpädagogik nach sich zieht. Das dies zum Teil noch „Zukunftsmusik“ ist, kann und soll nicht verschwiegen werden. In dem Maße jedoch, wie sich die kulturelle Situation selber wandelt und ausdifferenziert, steigt auch die Notwendigkeit, neue Formen kulturpädagogischer Institutionen, neuartige Vernetzungsstrukturen und Vermittlungsformen zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, daß situations- und ortsunabhängige, kulturell allgemeingültige, didaktische Begründungszusammenhänge für die jeweils konkret zu entwickelnde Praxis weitgehend unzulänglich sein werden. Dies kann eine Chance für die praktische Arbeit selber sein, da sie so ihre Konzepte in den konkreten kulturellen Feldern entwickeln muß. Dort muß sie ihre Methode ausbilden, erproben, revidieren und neu überprüfen, und je eigenständiger die einzelnen Träger der außerschulischen ästhetischen Erziehung und Kulturpädagogik dies tun können, um so besser ist der Prozess der fortwährenden Revision der pädagogischen Mittel und Methoden zu bewerkstelligen. Solche Überlegungen suspendieren die jeweiligen Kulturpädagogen nicht von der theoretischen, methodischen-didaktischen Reflexion ihres Handelns. Im Gegenteil, diese wird um so dringlicher, da sich die Pädagogen nicht mehr auf die praktische Relevanz didaktischer Globalkonzepte verlassen können. Dies alles werden sie aber auch kaum alleine bewerkstelligen können, und sie werden auf Bündnispartner in der Jugendarbeit und in den kommunalen Verwaltungen, in der Weiterbildung und an den Hochschulen angewiesen sein.
Das bisher Gesagte hat Konsequenzen für die konkrete Praxis des Kulturpädagogischen Dienstes. Wir gehen davon aus, daß das, was Kultur genau ist, sich jeweils nur in konkreten Situationen, Arbeitszusammenhängen und im Umgang mit ganz konkreten Individuen (mit ihren je eigenen kulturellen Ausdrucks- und Umgangsformen) „fassen“ läßt. Die Orientierung an der Alltagskultur und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ist dabei ein zentraler Bezugspunkt, der mit den Bereichen der unterschiedlichen Künste in eine spannungsvolle Beziehung gesetzt wird, um auf diesem Weg den Kindern und Jugendlichen vielfältige, bekannte und unbekannte, kulturelle und künstlerische Ausdrucks- und Bearbeitungsformen zu ermöglichen. Die in jedem Arbeitszusammenhang neu und konkret zu bestimmenden kulturellen Momente sollen die jeweiligen Projekte und deren Inhalte strukturieren. An diesem Punkt wird auch deutlich, was der Pädagoge in seiner Teilfunktion als Ethnologe zu leisten hat, denn wie dieser hat er in einem ihm fremden Terrain, an einer Situation, an einem Ort, an einem Ding, an einem Menschen und ihren Kommunikationsformen usw. das herauszuarbeiten, was kulturell, ästhetisch, künstlerisch und kreativ ist.
Die Orientierung an der Alltagskultur der Kinder und Jugendlichen ist der eine zentrale Bezugspunkt, aus dem heraus allerdings nur unter Hinzufügung weiterer Bezugsgrößen eine sinnvolle Kulturpädagogik zu leisten ist, sofern sie nicht affirmativ das zu stabilisieren trachtet, was an Alltagskultur vorhanden ist. Der Alltag ist kein integerer, unverfälschter Raum der Artikulation „wahrer“ Bedürfnisse und ihrer kulturellen Formen. Er ist auch weithin kolonialisiertes Gebiet, durchsetzt mit Surrogaten und Kunstfiguren nur noch imaginärer Phantasiewelten. In ihm ist vielfach simuliert, was real erscheint, und es enthält häufig nur noch Präsenz durch seine mediale Multiplikation.
Ziel der Arbeit des Kulturpädagogischen Dienstes ist es, Kindern und Jugendlichen Räume im konkreten und übertragenden Sinne zu eröffnen, in denen sie einerseits ihr alltägliches Ausdrucks- und Darstellungsvermögen entfalten und zumindest zeitweilig unbehelligt von der aufdringlichen Freizeit- und Konsumwelt ausdifferenzieren können, und in denen sie zum anderen mit neuen Möglichkeiten realer und symbolischer Artikulation und Expression konfrontiert werden. Unterschiedliche Medien, eine differenzierte und flexible Zeitstruktur, vielfältige Materialien, künstlerische Arbeitsweisen, Formen und Inhalte sind die, die kulturpädagogische Arbeit komplementär ergänzenden und erweiternden Bezugsgrößen. Formen und Darstellungsweisen der Alltagskultur treffen in den zuvor genannten Räumen auf künstlerische Methoden und Darstellungsweisen und aus der spannungsvollen Kommunikation beider Bereiche können und sollten neue Perspektiven der Selbstartikulation entwickelt werden.
Bei der konkreten Arbeit von „Aber Hallo“ steht der Dienstleistungsaspekt im Vordergrund, d.h. Projekte werden entwickelt und unterschiedlichen Interessenten, zumeist kommunalen Institutionen, angeboten. Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad der Arbeit von „Aber Hallo“ wurde und wird der Verein mehr und mehr von diesen Institutionen selber angesprochen, mit dem Ziel, für bestimmte zusammenhänge Projekte, Aktionen und Arbeitskonzepte zu entwickeln. Darüber hinaus beinhaltet der Dienstleistungsaspekt auch beratende Tätigkeiten von Trägem der offenen Kinder und Jugendarbeit.
Den unterschiedlichen Räumen und Orten zum einen und den jeweiligen Adressatengruppen zum anderen entsprechend werden in Zusammenarbeit und Absprache mit den Kooperationspartnern und/oder Auftraggebern die Projekte, den spezifischen Bedingungen Rechnung tragend, konzipiert. Orte der konkreten kulturpädagogischen Projekte sind nicht primär eigene Räume, eigene Ateliers oder ein eigenes Haus, sondern sozusagen „fremde Nester“, wie z.B. Straßen, Parks und Spielplätze, Jugend- und Kinderhäuser etc., wo für einen Zeitraum von 1 bis 4 Wochen mit Kindern und Jugendlichen zusammen zu einem bestimmten Themenbereich gearbeitet wird. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt die jeweils 5 Monate pro Jahr dauernde Leitung und Betreuung eines Kinderspielhauses dar.
Diese Formen kulturpädagogischer Arbeit erfordern eine hohe Flexibilität in Bezug auf Zeit, Raum und Ort der jeweiligen Arbeit sowie in Bezug auf ihre Organisationsstrukturen, finanziellen Absicherungen und institutionellen Vernetzungen. Das Moment der Dienstleistung und der dezentralen Arbeitsstruktur bedingt ein weiteres: Die Adressaten der Projekte und Veranstaltungen sind meist Kinder und Jugendliche, die keinen oder nur einen sehr geringen Zugang zu den traditionellen kulturvermittelnden Institutionen, zu Maischulen, Künstlerwerkstätten, Museen und ihren vielfältigen pädagogischen Angeboten haben. Die dort meist vorherrschende Kurs- und Gruppenorientierung mit ihren langfristigen, aufeinander aufbauenden und scheinbar kontinuierlichen Angeboten sind in dem „kulturellen Kapital“ dieser Kinder und Jugendlichen zunächst einmal nicht repräsentiert. Ein Tatbestand, der keineswegs zu glorifizieren ist, den es jedoch zur Kenntnis zu nehmen gilt, sofern man als Pädagoge mit diesem sehr hohen
Anteil an Kindern und Jugendlichen arbeitet und arbeiten will. Verstärkend kommt hinzu, daß der schulische Kunstunterricht, so stellt es sich häufig aus der Sicht der außerschulischen ästhetischen Erziehung dar, eher abschreckende als animierende Funktion in Bezug auf kreativgestalterische Arbeit für diese Kinder und Jugendlichen hat.
Als eine, den bisher skizzierten Überlegungen halbwegs adäquate Vermittlungsform erwiesen sich Projekte von unterschiedlicher Dauer und Form. Der Projektbegriff wird von uns allerdings nicht eng in einem historisch gewachsenen wissenschaftlichen und methodisch-didaktischen Sinn verwendet, sondern eher in seiner alltagssprachlichen Bedeutung genutzt. Er kennzeichnet meist zeitlich relativ überschaubare Arbeitsvorhaben, deren Verlauf von den Teilnehmern mitbestimmt wird. In den Projekten wird besonderer Wert sowohl auf die sozialen und künstlerisch -kreativen Prozesse gelegt, als auch auf die Gestaltung der Produkte der jeweiligen Arbeitsprozesse. Obwohl die Projekte zumeist multimedial angelegt sind, ist dennoch häufig ein Medium dominant. Entscheidend ist, daß die jeweiligen Arbeitsvorhaben unter einem bestimmten Leitthema stehen und insbesondere die Raum-,Zeit- und Materialorganisation auf dieses Thema hin abgestimmt sind. Hinzu kommt, daß diese Projekte zumeist so offen konzipiert sind, daß die Kinder und Jugendlichen ihrerseits zu fast allen Arbeitsphasen ein oder aussteigen können, andererseits aber auch eine kontinuierliche Mitarbeit gewährleistet und möglich ist. Der offene Zugang zu den Projekten ist keine neue Form des „laissez-faire“, sondern erfordert konkrete Entscheidungen von den Kindern, Jugendlichen und Pädagogen, die sie im Verlauf der Projekte immer wieder von neuem untereinander aushandeln müssen. Dadurch wird ein Prozess ausgelöst und in Gang gehalten, der selber in hohem Maß von kultureller Bedeutung ist und eine so verstandene Kulturpädagogik entwickelt hierdurch auch eine politische Potenz.
Die in diesem Buch dokumentierten Projekte und Arbeitszusammenhänge mögen einen Einblick in die praktische und konzeptionelle Arbeit des „Kulturpädagogischen Dienstes“ geben und das zuvor geschriebene partiell verdeutlichen. Unsere Absicht bei der Zusammenstellung der Broschüre war es jedoch nicht, einer vorgegebenen Theorie durch nachgelieferte Praxisbeispiele genüge zu tun oder eine bruchlose Einheit der beiden Bereiche vorzutäuschen. Vielmehr soll die Reflexion der Praxis dazu dienen, begründete Fragen an die Theorie stellen zu können um deren Tauglichkeit zu prüfen. Ein Prozess, von dem wir denken, daß er auch öffentlich zu machen ist, um so die Kulturpädagogik in ihrem theoretischen und praktischen Selbstverständnis voran zu bringen.
Reiner Nachtwey 1989