Schon bei einem ersten, flüchtigen Blick auf die Farbfotografien von Reiner Nachtwey erkennt der Betrachter, daß dies keine Fotografien im traditionellen Sinne sind, daß sie in hohem Maße konstruiert und manipuliert sind und daß sie dies in keiner Weise versuchen zu vertuschen. Da wird nicht geschickt montiert und retuschiert, um so mit den „legalen“ Mitteln des Mediums den Bruch zwischen Bild und Abgebildetem, zwischen Fotografie und Realität zu vertuschen.
Seit 1985 arbeitet Nachtwey mit farbigen Fotografien und knüpft dabei an Erfahrungen mit experimenteller schwarz/weiß Fotografie aus den späten 70er Jahren an. Schaut man ihm bei der Arbeit zu, oder läßt sich von dieser berichten, so wundert man sich, wie und wo er seine Bildmotive findet, wie er fotografiert und wie er letztendlich zu solchen farbigen, fotografischen Arbeiten kommt. Zeitungsfotografien aus der Tageszeitung oder der illustrierten Presse liefern das Ausgangsmaterial seiner Arbeit und seiner künstlerischen Bildphantasie. Solche Bilder reproduziert er auf unterschiedlichen Filmmaterialien, bevor er diesen Zeitungsbildern selber z. B. mit Filzstiften „zu Leibe rückt“, sie übermalt und verändert. Von diesen übermalten – besser vielleicht überkritzelten – Zeitungsbildern stellt er dann wiederum Repros her, macht Auschnittvergrößerungen usw. So entstehen aus dem „Rohmaterial“ Zeitungsbild eine ganze Anzahl unterschiedlicher Reproduktionen, die sozusagen den „Bildstock“ darstellen für die weiteren Arbeitsprozesse. Die entstandenen Negative und Diapositive werden oft in ganz unfotografischer Manier weiterverarbeitet. Auf ihnen werden Bildmotive mit einer Stahlnadel herausgekratzt, weggekratzt oder verstärkt, mit Sandpapier werden Bildstrukturen verstärkt oder dort neu angelegt, wo Nachtwey sie hinhaben will, oder er arbeitet mit Aquarellpinsel und Filzstift direkt auf die Negative.
Von solcherart bearbeitetem Filmmaterial werden von neuem Duplikate und Auschnittvergrößerungen gemacht, die ihrerseits wiederum mit anderen Negativen oder Diapositiven kombiniert werden. Manchmal werden vier, fünf unterschiedliche Negative ineinander belichtet, und aus dem einen „Ausgangsbild“ entstehen so 10, 15, 20 neue Bilder. Aus ihnen wird ausgesucht, Farben werden dort, wo sie nicht stimmen, korrigiert, Negative werden im weiteren Arbeitsprozeß als Positive behandel und diese ins Negative verkehrt. Die ganze Arbeit verläuft über eine langen Zeitraum. Wochen vergehen, parallele Bildserien entwickeln sich, Dias stapeln sich auf Nachtweys Arbeitstisch, werden in langen Auswahlprozessen reduziert, bis sich die endgültigen Bilder herauskristallisieren. Die häufigen Entwicklungsprozesse, sowohl der Negative als auch der „Zwischenpositive“, überläßt Nachtwey der Fotoindustrie die das viel schneller bewerkstelligen kann als er. Ihre vielfältigen „Fehler“ sind ihm oft willkommene Anlässe für neue Bildideen.
Auf dem Weg dieser Bildherstellung verlieren die Fotografien Nachtweys all das, was gemeinhin Fotografien auszeichnet, insbesondere den Charakter der fotografischen Authentizität, ihr Vermögen also, die Welt außerhalb von uns möglichst detailgenau wiederzugeben. Was übrig bleibt, sind manchmal die Rasterpunkte der Zeitungsfotos und letztendlich Bilder, die ausschauen, als seien sie gemalt.
Und dennoch sind diese Fotografien in einem anderen Sinne authentisch, zeigen sie doch die Realität, wie sie in der Phantasie und in den Gedanken des Künstlers existiert in einer Form, in der die Handschrift, der Duktus für „Echtheit“ zu bürgen scheint. Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn die diversen Nachrichtenmedien des öfteren Bilder von Raketen, Flugzeugen und ähnlichen Geräten zeigen, die oben im Blau gleizend und rot zerplatzen. Innen und Außen sind auf‘ s engste miteinander verknüpft.
Der Aspekt des Authentischen in der Fotografie wird in den Arbeiten Nachtweys einerseits gebrochen, andererseits jedoch verstärkt, dies allerdings mit Mitteln, die klassischerweise nicht die der Fotografie sind. In dem Maße, wie sich Nachtwey vom traditionellen Handwerk der Fotografie entfernt, werden seine fotografischen Arbeiten malerisch, und im malerischen und zeichnerischen Gestus zeigt sich die kleinste Einheit authentischen Ausdrucks aus einer Zeit, als die Bilder noch nicht technisch und chemisch herzustellen waren.
Jedoch, der sich im Malerischen und Zeichnerischen zeigende Ausdruck von Hand und Körper, versteckt sich, macht sich dünn und glatt, ja er macht sich fast unnahbar in der kühlen, chemischen Emulsion des Foto„papiers“ und der Technizität des fotografischen Bildes. Ja, es scheint manchmal so, als gewähre dies erst den Raum und die Distanz, in dem sich die persönliche Realität und Weitsicht des Künstlers entfalten kann. Seine Träume und Alpträume geben sich zu erkennen, jedoch im geschützten Raum, weil sie schon morgen von der Realität eingeholt werden können und in ihr zerplatzen oder sich in erschreckender Weise realisieren.
Maria Thanisch, Münster, September 1988