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Vorerinnerung
Der vorliegende Text ist ein Extrakt, das Konzentrat eines zweitägigen Kolloquiums über künstlerische Phantasie, das im August 1979 in der Grafikklasse der Abteilung für Kunsterzieher Münster der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf stattgefunden hat. Im Mittelpunkt des Gespräches standen Druckgrafiken, Gemälde und Zeichnungen von Elke Balzer, Reiner Gerke und Andreas Rosenthal. Außer den Bildautoren nahmen Gabriele Feuerstein-Bernhard, Ingrid Krusat, Andreas Kuhlmann, Walter Maaß und Reiner Nachtwey teil. Begrüßung: Sherry, Tee, Kaffee und Obst; Es war zugleich ein Treffen von Studenten und ehemaligen Studenten der Klasse; 11 Uhr 3o: „Das Tonband läuft ! „
Es lief fast acht Stunden lang und zeichnete in erschreckender Gleichgültigkeit auf, was vor den Bildern geredet und gestammelt wurde, und wie sich Begriffsdenken und Beredsamkeit zeitweise von ihnen löste, um Eigentümlichkeiten künstlerischer Phantasie zu bestimmen. „Und in der Tat: allzu oft begiebt sich’s, daß unser analytisches Reflektieren über Kunst eigentlich bloß dem Spiegel-Werke im Tempel von Smyrna gleicht, welches auch das holdeste Bild nur als ein verzerrtes zurückwirft.“ (E. P.. Poe, Marginalien) In einem langwierigen Abhörverfahren wurde das gespeicherte Gespräch in Materialien zerleg, gegliedert und neu zusammengestellt zur schriftlichen. Dokumentation des Gespräches (Redaktion: Maaß, Nachtwey, Rosenthal, Keusen). Wie sieh gezeigt hat, ist dieses Verfahren umständlich; mit einigen Notizen und im Vertrauen auf das eigene Gedächtnis wäre die Arbeit leichter gewesen.
Die drei Gesprächsauszüge sind sehr verschieden ausgefallen. Das liegt natürlich an der Verschiedenartigkeit der Bilder von Elke Balzer, Reiner Gerke und Andreas Rosenthal, an den einführenden Bemerkungen und an dem mehr oder weniger aufmerksamen Interesse der Teilnehmer. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß Gerkes Bilder unbekannt waren, Balzers Drucke dagegen schon mehrfach in der Hochschule ausgestellt waren und über die Arbeiten von Rosenthal in kleinerem Kreis vorher ausführlich diskutiert worden ist. Alle drei haben Ergebnisse aus längeren Arbeitsphasen vorgestellt (Examensarbeiten).
Das Thema – „Wie organisiert sich künstlerische Phantasie?“ – ist gewachsen. Seit ungefähr fünf Jahren konzentrieren sich die Studien in der Klasse besonders auf die Entwicklung von Experimentierfähigkeit und Vorstellungskraft. In künstlerischer Gruppenarbeit, in Einzeluntersuchungen und Interpretationen wurden Elemente, Triebkräfte und Erscheinungsformen des flüchtigen, schwer zu fassenden Phänomens Phantasie erkundet. Dieses Kolloquium unterlag einer weitergehenden Verabredung: angesichts der Bilder und vor dem Hintergrund ausgewählter Texte von E. Bloch und G.K. Lehmann (s. Literatur) sollten Bedingungsmomente und Eigenarten der Phantasietätigkeit ausfindig gemacht und auf Begriffe gebracht werden. Das ist trotz spürbarer „Anstrengung des Begriffs“ nur sehr bedingt gelungen.
In anderer Hinsicht war das Kolloquium ergiebiger: als Modell einer Methode, Wahrnehmungen und Assoziationen sprachlich unmittelbar zu artikulieren und gesprächweise zu prüfen. Dabei ist rechtes Sprechen und Nach-Denken nicht so wichtig; es kommt viel mehr auf das Sprechen im Mitdenken an: „Ein so1ches Denken“ , sagt Kleist, „ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die Gemütsakten, für eins und das andere, kongurieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes Rad an seiner Achse.“(„Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“)
Der Form des Kolloquiums entspricht es, das wir keinen geschlossenen Text liefern, der durch Fachliteratur nach allen Seiten hin abgesichert ist. Stattdessen könnte die Offenheit, mit der wir uns auf Bilder und Gespräche eingelassen haben, anregen Ähnliches zu tun. Obgleich auch hier, bei der Lektüre über Phantasie , der Wunsch entsteht, sie selber sei mehr zu Wort gekommen. Doch es gibt schlimmeres: Wie ist es möglich, daß phantasielos belehrendes Reden, Denken und Schreiben das bestimmt, was wir als Kunstdidaktik oder Fachdiskussion zu bezeichnen uns angewöhnt haben.
Es wird Zeit, die Künstler und besonders die Dichter zu studieren, die eine ihrem Werk ebenbürtige kunsttheoretische Reflexion geleistet haben. Baudelaire zum Beispiel hat, wie Hugo Friedrich in der „Struktur der modernen Lyrik“ feststellt, „mit der Reflexion über sein Tun die poetische Hochspannung sogar verstärkt“. Baudelaire schleuderte auch jenen Gedankenblitz, der weit über den Rahmen unserer Untersuchung hinaus die Situation erhellt, und die wissenschaftliche Phantasie- und Kunsterforschung wachschrecken konnte: „Der Dichter ist die höchste Intelligenz, und die Phantasie ist die wissenschaftlichste aller Fähigkeiten.“
Gunther Keusen