……. Im begreifenden Zugriff auf die Welt ist die Metaphysik vielleicht von der Psychoanalyse verdrängt worden. Aber die antike Treppe führt nirgendwohin, unser fragendes Eintauchen in die Mythen bedeutet auch nur Eingeschlossensein in einem Kreislauf kultureller Wiederaufbereitung, ohne daß das eigentliche Wesen des einen Menschen dabei zum Vorschein käme.
Hiermit verglichen führen uns die Photographien von Reiner Nachtwey ähnliche Topoi, jedoch gänzlich verschiedene Themen vor Augen. Mittels spezieller und nicht erkennbarer Montage und Überlagerungstechniken stellt er aus selbst aufgenommenen sowie in Zeitungen oder anderen Druckvorlagen gefundenen Photographien langgestreckte Rechtecke her. Nicht allein die Formate sind exzessiv und ungewöhnlich, auch Aufbau und Beleuchtung versetzen in eine fremdartige Welt. Hervorstechend ist die alles einhüllende, sanft überlagernde Dunkelheit. Seine Bilder sind, wie er selbst einmal sagte schwarze Löcher, wie sie nach dem Ausglühen eines Sterns entstehen oder nach dem Ende einer Katastrophe. Die Energie bleibt bestehen, aber die Sichtbarkeit, die Sinnlichkeit ist verloren gegangen. So bleibt es auch, wenn Gegenstände oder Figuren, kurzfristig von einem Blitzlicht erhellt, aus dem Dunkel auftauchen.
Ob es sich nun um das häufig wiederholte Motiv des Flugzeugs handelt, um ein Pferd, einen Hasen oder einen Kirmesplatz, immer sind es inkonsistente, sich auflösende Körper. Sie scheinen ihrer Körperschwere enthoben, wie Traumbilder, die sich der Erinnerung entziehen und ins Dunkle verwehen. So entschwand Eurydike ihrem Orpheus in die Unterwelt, als der sich gegen das Verbot, seinem Verlangen folgend, nach ihr umschaute. Jean-Francois Lyotard benutzt gerne diesen Vergleich, wenn er erklären will, daß das Hauptmerkmal der modernen Kunst darin besteht, daß sie vom Wesentlichen umso mehr entfernt würde, je mehr sie ihren Bildgegenstand in einen festen Umriß pressen, in einer traditionellen Wahrnehmungsstruktur darstellen wollte. Zum Selbstverständnis der Moderne gehört das schwindende Bild.
Aber Reiner Nachtweys Photographien sollten nicht mißverstanden werden, indem man sie als bloßen Kommentar zu ästhetischen Theorien der zeitgenössischen Kunst begreift. Dieser Gedanke kann nur ein Nebenprodukt der Betrachtung sein. Tatsächlich haben seine Bilder etwas von Gleichnissen. Sie stehen für eine bestimmte Haltung des Künstlers oder Photographen. Seine schmalen Formate haben keine Mitte, die Dinge und Figuren befinden sich an den Rändern, wie in einer dezentrierten Bewegung nach außen geschleudert. Es wird ein Gefühl der Einsamkeit erweckt, einer indifferenten Leere, ein Gefühl, das auch daraus entsteht, daß der Betrachter der Dinge nicht mehr habhaft werden kann. Dabei setzt Nachtwey seine Bildmotive bewußt metaphorisch ein. Als Metaphern tragen sie die Schwerelosigkeit schon in sich, sei es ein Hubschrauber, ein Boot, eine Schaukel oder ein Karussel. Hier ist die Dunkelheit, in der sich alles dreht, ins Immaterielle auflöst oder davongetragen wird, zum Reich einer manchmal skurrilen, manchmal geisterhaften Befreiung geworden.
Unabhängig von dem wort—spielerischen Hinweis darauf, daß wir es also als Betrachter dieser Ausstellung mit einer dunklen Helligkeit und einem lichten Dunkel, d. h. einer Unmöglichkeit, zu tun haben, könnte es sich herausstellen, daß es sich in einem weiteren Sinne und in beiden Fällen um Fragen der Macht und der künstlerischen Annäherung an die Wirklichkeit handelt. Ganz gleich, ob es um den Wunsch des einen geht, in sein Unterbewußtes erkennend vorzudringen oder um den Griff des anderen nach der äußeren Welt: es zeigt sich, daß wir verlangend machtlos einer alles dominierenden Leere ausgeliefert sind. (Auszug aus dem Katalogtext)
Marie Luise Syring