Die jüngsten Arbeiten von Reiner Nachtwey geben Rätsel auf, wenn der Betrachter nach fotografisch festgehaltenen Situationen fragt und somit sein Augenmerk auf die gegenständlich wiedererkennbaren Motive richtet. Dieser Annäherungsversuch, mit dem man normalerweise fotografischen Bildern begegnet, wird grundlegend irritiert.
Menschliche Figuren, Hasen und Flugobjekte tauchen als kaum greifbare Silhouetten in unterschiedlichen Bildräumen auf. Sie erscheinen als fragmentierte Licht- oder Schattengestalten und wirken hierdurch wie augenblicklich präsent, andererseits wie verloren und auf merkwürdige Weise isoliert. Als Einzelmotive bewegen sie sich in den Randzonen des Bildfeldes, undefinierbaren Leerräumen ausgesetzt, als Gruppen treffen sie ohne erkennbaren Zusammenhang aufeinander, der sie zu einer sinnvollen Situationseinheit verbinden könnte. Der Betrachter findet keine räumlichen Koordinaten, die einen gemeinsamen Bewegungsraum aufzeichnen.
Viele Figuren scheinen zu schweben, einige fallen kopfüber ins Bildfeld hinein, wieder andere werden vom unteren Bildrand beschnitten, so daß der Eindruck entsteht, als stürzten sie haltlos ins Ungewisse. Perspektivisch verkürzte Ansichten und verschiedene Bewegungsgesten erschließen rational nicht meßbare Tiefenräume, in die scheinbar ziellose Bewegungsrichtungen führen.
Die suggestive Ausdrucksqualität der gezeigten Bilder wird verstärkt durch eine produktive Vermittlung zwischen diesen abbildlichen Werten und nichtgegenständlichen Bildstrukturen, die den geschilderten Eindruck von nicht kontrollierbarer Räumlichkeit und zielloser Bewegung dramatisieren.
Die gegenständlichen Motive werden aufgelöst oder überlagert von Schraffuren, umgeben von Lichtbahnen oder einzelnen Lichtpunkten, über die der Blick des Betrachters mal sprunghaft, mal fließend hinwegfährt und so in ständiger Bewegung bleibt.
Die fotografisch bedingte Auflösung der Farbflächen erzeugt eine feinkörnig verschwommene Mikrostruktur, die dem Auge keine Fixpunkte liefert, so daß es immer wieder zwischen den unterschiedlichen Raumwerten der einzelnen Farbpigmente hin- und hergleitet. Farbbahnen und Heildunkelzonen, die ohne scharfe Konturen ineinanderfließen, lösen den Eindruck sich ständig überlagernder Raumschichten aus.
Der Betrachter gerät zusehends in eine Stimmung stark emotionaler Qualität. Die Bilder nehmen den Charakter von Visionen an, die keine Gewißheiten bergen. Diese Erfahrung wird nicht durch eine Bedrohlichkeit der Motive selbst, sondern durch die bedrohliche Art und Weise ihrer bildlichen Inszenierung ausgelöst, welche ein anschauliches Erleben provoziert, das den Betrachter unmittelbar gefangen nimmt.
Eine klare Deutung der Bildgegenstände wird in diesem Kontext unwichtig. Sie werden mit den erlebten Stimmungswerten besetzt und erhalten hierdurch ihre Aussagekraft. Die menschlichen Figuren verkörpern schwebende Bewußtseinszustände, die Flugzeuge eine utopische Inbesitznahme unzugänglicher Zeiträume, die Hasen berühren Zwischenbereiche des Menschlichen, in denen man Grundzüge eigener Existenz wiedererkennt.
Die Wirkungsqualität seiner Bilder erreicht Reiner Nachtwey insbesondere dadurch, daß er nicht mehr im herkömmlichen Sinne fotografiert, sondern im erweiterten Sinne mit fotografischen Mitteln arbeitet. Das fotografisch erzeugte Bild, das Aspekte der sichtbaren Außenwelt fixiert, ist nur noch derAusgangspunkt langandauernder Veränderungsprozesse, in denen er die Grenzen des Mediums vielfach übe rsch reitet.
Verschiedene Bilder, Duplikate von gedruckten Fotos, werden hintereinander montiert und wieder abfotografiert. Die Farbtemperatur der benutzten Lichtquelle verändert die Farbtonalität der Ausgangsbilder, ihre Größe erzeugt unterschiedlich verteilte Licht- und Dunkelzonen.
Durch fotografische Umkehrprozesse vermischen sich Positiv- und Negativeffekte. Einzelne Zwischenbilder werden malerisch verändert, wobei schwarz markierte Flächen und Konturen in der nächsten Negativkopie als leuchtende Silhouetten erscheinen. Die scharf umrissenen Lichtbahnen und Lichtpunkte entstehen aus Verletzungen der Filmschicht.
Das fertige Bild enthält all diese Gestaltungsschritte in verdichteter Form und besitzt gerade hierdurch die anfangs beschriebene Ausdruckskraft, die den Betrachter in Empfindungsräume führt, die auch der Künstler in den verschiedenen Phasen seiner eher intuitiv gesteuerten als bewußt geplanten Arbeit durchläuft.
Allgemein beruht der Reiz fotografischer Technik darin, daß sie es ermöglicht, scheinbar objektive Bilder unserer sichtbaren Außenwelt einzufangen oder minimale Zeitpunkte von Bewegung, die wir bewußt nie wahrnehmen können, dauerhaft zu fixieren.
Im Gegensatz hierzu eröffnen die Fotografien von Reiner Nachtwey visionäre Innenwelten. Sie berühren Bewußtseinszustände, in denen wir entgrenzte Zeiträume empfinden, da verschiedene Bilder auftauchen und wieder verschwinden, ohne daß wir sie zeitlich ordnen oder inhaltlich klären können.
(Katalogtext)
Dagmar Schmidt, Bochum
Farbfotografie O.T. Nr. 31/32; Format: 75×50; Aachen 1989
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Farbfotografie O.T. Nr. 33/37; Format: 75×50; Aachen 1989
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Farbfotografie O.T. Nr. 36/48; Format: 150×100; Aachen 1989
Farbfotografie O.T. Nr. N2; Format: 75×50; Aachen 1986
Farbfotografie O.T. Nr. 44/92; Format: 75×50; Aachen 1989
Farbfotografie O.T. Nr. 37/54; Format: 150×100; Aachen 1989