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Reiner Nachtwey: Schein und Wirklichkeit

Die fotografischen Arbeiten Reiner Nachtweys sind keine Fotografien im klassischen Sinne, denn sie geben nicht die sichtbare und von jedermann unmittelbar nachvollziehbare Wirklichkeit wieder, sondern sie geben andere Fotos wieder. Sie zeigen nicht eine objektive Realität, sondern die von anderen Fotos und anderen Fotografen abgebildete und daher subjektiv wiedergegebene Realität. Reiner Nachtweys künstlerische Arbeit besteht darin, von ausgesuchten Fotovorlagen so lange Dias von Dias anzufertigen, bis sich durch die beginnende Verunklärung eine neue und für ihn befriedigende Bildrealität ergibt. Seine Vorlagen erstellt er selbst oder entnimmt sie den Nachrichten, Dokumentations- und Sensationsfotos unserer Printmedien.

In zahlreichen Arbeitsschritten, durch Mehrfachbelichtungen, Collage und Montage, werden die ‘Urbilder’ zu neuen Bildern umgesetzt, die neben der Motivverfremdung auch durch subtile Farbabstimmungen gekennzeichnet sind. Obwohl immer wieder Fotos von Fotos gemacht werden, werden die Ergebnisse nicht etwa bis zur Unkenntlichkeit dunkel, sondern sie behalten stets eine helle, fast strahlende Leuchtkraft mit glühender Farbigkeit. Durch die weitgehende Zerstörung des ‘Urbildes’ und das Ausblenden der ursprünglichen Bildrealität erhält Nachtwey die gewünschten Resultate. Die Manipulation, die während des Arbeitsprozesses an den Bildmotiven vorgenommen werden, verändern diese äußerlich und inhaltlich derart, dass wir gezwungen sind, uns vor den Bildern Zeit zu nehmen. Nachtweys Fotografien gehen zwar auf die sichtbare Wirklichkeit zurück, geben diese aber nicht wahrheitsgetreu wieder, sondern erzeugen eine neuartige und bisweilen fremdartige Wirklichkeit. Nachtwey kehrt die Fotografie in das Gegenteil, als dass sie einst gefeiert und kreiert wurde, nämlich als naturgetreue und unverfälschte Wiedergabe der Natur, die der Malerei überlegen sei, da die Technik das vermeintliche Unvermögen der Maler ersetze. Die Malerei gibt die sichtbare Wirklichkeit stets mit den Mitteln ihrer Zeit wieder und ist bestimmten Kunststilen oder Kunstrichtungen und nicht zuletzt der Fähigkeit und Intention der Künstler unterworfen. Die Fotografie hingegen scheint ein objektiver Weg zu sein, Sichtbares in einem Bild einzufangen. Dies gilt für Landschaftsaufnahmen, für Stilleben, für Dokumentationsaufnahmen, vor allem aber für die uneingeschränkt getreue Wiedergabe von Personen, weshalb das gemalte Bildnis auch rasch dem fotografierten Porträt weichen musste. Es hat lange gedauert, bis die Fotografie sich aus denZwängen der Objektivität und des Realismus befreite, bis man erkannte, dass auch die Fotografie keine objektive Wiedergabe leisten kann.

Dass die Fotografie alles andere als objektive Wiedergabe von Gesehenem ist, sondern genauso subjektiv arbeitet wie die Malerei, dass die Fotografie sich im Grunde nur durch die Technik von der Malerei unterscheidet, ist auch der künstlerische Ansatzpunkt von Reiner Nachtwey. Vielleicht Ist dies auch eine Ursache dafür, warum seine zumeist aus warmen, erdigen Tönen bestehenden Fotos sich eine eigenartige Nähe zur Malerei erhalten haben.

Da Nachtwey immer wieder Fotos von Fotos anfertigt und hierbei einem bestimmten Arbeitsprinzip folgt, ist es naheliegend, dass seine Bilder in verschiedenen Bildzyklen münden: Mythisch wirkende Boote, verschlüsselte Personendarstellungen, choreografisch inszenierte Erzählfolgen oder abstrakt wirkende Bilder von verfremdeten Insekten. Den Serien ist gemeinsam, dass entweder die Struktur der Gegenstände oder die szenische Handlung zu ihrer Fortsetzung reizt. Gemeinsames Kennzeichen der Einzelbilder ist die Dominanz von Symmetrie und Komposition sowie die lanzettförmige und in sich geschlossene Form der Gegenstände, die sowohl bei den Booten als auch bei den Körperbildern bestimmend eingesetzt wird.

Die Symmetrie wird insbesondere sinnfällig bei den Booten, deren skelettartige Rümpfe fast ganzformatig die Bilder füllen, hoch aufgerichtet oder querstehend. Sie bestehen aus zwei scheinbar identischen und sich ergänzenden Bildhälften, die sich aber in verschiedenen Details unterscheiden. Boote verkörpern seit jeher Geborgenheit und symbolisieren Reise und Weite. Die von Reiner Nachtwey präsentierten Boote sind jedoch zerstört und daher unbrauchbar. Halb vermodert scheinen sie auf dem Grund eines Gewässers zu liegen, von wo aus sie über ihre früheren Reisen und einstigen Erlebnisse zu berichten scheinen.

Ein Zyklus von Arbeiten beschäftigt sich mit der Darstellung von Personen, die lediglich als Torso mit Kopf oder Brustbild wiedergegeben werden. Ansatzweise sind Arme und Beine erkennbar, die den Figuren eine tanzende oder springende Bewegung verleihen. Die Bilder, deren Vorlagen zumeist den Medien entstammen, zeigen den aktiven und sich aus seiner existentiellen Eingeschränktheit befreienden Menschen. Wie man an den sich auflösenden Bildpunkten, den Pixeln, erkennen kann, ist im Unterschied zu seinen anderen Arbeiten hier der Grad der bildlichen Auflösung wesentlich größer, wodurch eine große und fast intime Nähe zu den dargestellten Akteuren entsteht.

Die Einzelpersonen wurden weiterentwickelt zu szenischen Erzählfolgen, in denen Handlung und Ort zumeist verschlüsselt bleiben. Traumbildern vergleichbar ergeben sich phantastische oder surreale Situationen, die sich einer vordergründigen Logik entziehen. Fliegende, schwebende oder springende Personen werden in klar aufgebauten Kompositionen in Szene gesetzt. Weite, Tiefe und Ferne sind darin wichtige Aspekte. Auch hier bedient sich Reiner Nachtwey der Versatzstücke unserer Alltagswelt, so dass die Authentizität seiner Bilder stets gewahrt bleibt. Obwohl es nicht dem langwierigen Arbeitsprozess entspricht, wirken die Serien wie die schnelle Arbeit eines Bildreporters, der seine Kamera per Schnellauslöser benutzt hat und dem sich dabei der Film verhaspelt hat. Das Ergebnis sind bruchstückhafte und scheinbar unzusammenhängende Erinnerungen, die erst geordnet und neu sortiert werden müssen.

Während bei diesen Arbeiten noch Reminiszenzen an erkennbare Motive erhalten bleiben, zeigen die Bilder von toten Insekten eine weitgehende Verfremdung, bis hin zur Unkenntlichkeit. Von den einst filigranen Fliegern sind nur ansatzweise gebrochene Beine, Fühler oder Partien der Flügel erkennbar, ohne die man die Darstellungen für völlig abstrakt halten würde. Deutlicher und frappierender als bei den anderen Bildserien werden hier Tod und Vergänglichkeit thematisiert, vielleicht auch die Hybris der munteren und bisweilen frechen Krabbler, vor deren Gewimmel zu ihren Lebzeiten niemand sicher war. Aufgelöst bis zum Staubkorn, mehrfach zerknickt und zerbrochen, verweisen sie in besonderem Maße auf die Frage nach dem ‘Urbild’, auf dessen Auflösung und Zerstörung Nachtweys künstlerische Arbeit basiert.

lndem er mit ungewohnten Motivkombinationen und Motivverfremdungen arbeitet, sucht er nach Erklärungen für den Sinn von Zusammenhängen. Trotzdem entbehren seine Arbeiten der technischen und harten Klarheit, wie sie die heutigen Reproduktionstechniken ermöglichen würden, sondern zeigen bevorzugt diffuse Mehrdeutigkeit und Mehrschichtigkeit, die Überlagerung und die Iichtdurchflutete Oszillation. Nicht die klaren und banalen Wahrnehmungen finden sein Interesse, sondern die ungewohnten, die gebrochenen und mehrdeutigen Wahrnehmungen. Zu den besonderen visuellen Reizen in seinen Arbeiten gehören die gezielt inszenierten Reflexe und Spiegelungen von Wasser oder Schimmer und Glanz metallischer Gegenstände.

Reiner Nachtwey präsentiert Arbeitsergebnisse, die keinen Abbildungscharakter , sondern eher einen Darstellungscharakter besitzen. Sie geben nicht etwas Vorhandenes wahrheitsgetreu wieder, sondern erzeugen ein neues Resultat. Dieses künstlich erzeugte Resultat ist häufig dadurch gekennzeichnet, dass vertraut scheinende Details, die jedem aus seiner alltäglichen Wahrnehmungswelt bekannt sind, erkennbar bleiben, dass aber diese Details in völlig neue und auf den ersten Blick in fremdartige, ja chaotische Zusammenhänge und Konstellationen gebracht werden.

Die Arbeiten wollen also auch durch ungewohntes Kombinieren von Bildmotiven oder Handlungsabläufen eingefahrene Sehgewohnheiten und thematische Klischees aufbrechen. Dies betrifft vor allem die Erzählfolgen, deren verschlüsselte Logik sich erst nach eingehendem Betrachten zu erkennen gibt. Nachtwey behandelt darin die komplexen Aspekte unserer Existenz am Beispiel von Alltagssituationen. Leben und Lust, Staunen und Erkenntnis, aber auch Tod und Vermächtnis, werden wiederkehrend zum Ausdruck gebracht. Durch ihre Ästhetik und Sinnlichkeit berühren die Arbeiten den Betrachter unmittelbar und zeigen, dass den Menschen jenseits der Alltagserfahrungen stets die gleichen Gefühle, Sehnsüchte und Hoffnungen berühren. Die Eindringlichkeit seiner Bilder und die Transzendenz seiner Themen werden auch unterstützt durch das geheimnisvoll scheinende, warme Licht, das die Fotos – Kirchenfenstern vergleichbar – von hinten durchdringt.

Die Arbeiten machen bewusst, wie sehr der Mensch gewohnt ist, die Welt durch Bilder zu begreifen und in Bildern zu denken. Nachtwey unterscheidet hierbei zwischen der Welt, die fotografiert worden ist, weil sie interessant ist, und derjenigen, die plötzlich interessant erscheint, weil sie uns anhand eines Fotos vor Augen steht. Diese zweite Welt ist die Bildwirklichkeit seiner Arbeiten. Sie ist eine rein künstliche, die nur ihren eigenen Gesetzen gehorcht und sich von der Realität weit entfernt hat. In die Spanne zwischen Wirklichkeit und Schein, zwischen ‘Urbild’ und künstlichem Mutanten, hat Reiner Nachtwey seine fotografischen Arbeiten platziert.

Martin Gesing, Beckum